Die Pandemie hat auch im Kino ihre Spuren hinterlassen. Vor allem für Liebhaber und Liebhaberinnen des europäischen Kinos scheint die Flut an Kammerspielen auf der großen Leinwand nicht mehr abzureißen. Aufgrund der geringen Anzahl an benötigten Mitarbeitenden vor Ort wurde diese kompakte Art des Filmemachens in den letzten drei Jahren besonders gerne genutzt. So auch bei „Die Nachbarn von Oben“, einer Schweizer Komödie, bei der ein lustloses Ehepaar alle Hüllen fallen lässt.
Nach dem 20. Ehejahr ist die Beziehung zwischen Anna und Thomas so prickelnd wie abgestandene Cola. Dessen werden sie sich zunehmend bewusst, als über ihnen neue Nachbarn einziehen, denen sie jede Nacht beim lauten Liebesspiel zuhören müssen. Bei einem gemeinsamen Abendessen lernen sich die beiden Paare aber schnell näher kennen, als ihnen lieb ist.
Schauspiel – Starke Frauen
Durch eine überdurchschnittliche Leistung von Ursina Lardi (Anna), welcher teilweise das Skript nicht einmal gerecht zu werden scheint, lässt sie ihren Film-Ehemann Roeland Wiesnekker (Thomas) nicht selten recht unbeholfen aussehen. Dieser fokussiert sich hauptsächlich darauf, dem Publikum ein gezwungenes Lachen zu entlocken und spielt somit total an der emotional-facettenreichen Performance seiner Kollegin vorbei. Auch bei den titelgebenden „Nachbarn von Oben“ scheint dies der Fall zu sein. Sarah Spale (Lisa) verkörpert die Rolle der alternativ-angehauchten Psychologin mit einer Selbstverständlichkeit, die ihrem angespannten Leinwand-Liebhaber Maximilian Simonischek (Salvi) zu fehlen scheint. Die beiden männlichen Protagonisten durchleben innerhalb kürzester Zeit multiple Stimmungsschwankungen, stürmen (zu) oft grundlos aus dem Raum und es fällt schwer, Sympathie für sie zu entwickeln.
Story – Let´s talk about Sex
Wenn pubertäre Jugendliche unter sich sind, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Sex zum Thema wird. Ähnlich handhabt es auch dieses Drehbuch. Der neue Teppich wird auf seine mögliche Umfunktionierung zur „Sex-Unterlage“ kommentiert, bei der ersten Wohnungstour wird gleich das Bett getestet und es dauert nicht lange, da steht das Gesprächsthema Orgien im Raum. Was zuerst etwas befremdlich wirkt, entpuppt sich nach und nach als geschickte Masche von Lisa und Salvi, denn diese wollen mehr von ihren Nachbarn, als ein gemütliches Abendessen. Eine anregende Prämisse, die sich aber leider in der zweiten Hälfte des Films in zu langen Streitgesprächen verirrt.
Regie – Konkurrenzdruck
Vor allem visuell weiß der Film von Sabine Boss viel unausgeschöpftes Potential auf. Kreative Kamerafahrten und spannende Szenenbilder sind es, was vielen Filmen einen Rewatch-Faktor verleiht. Gerade bei einem Subgenre wie dem Streit-Kammerspiel, welches in den vergangenen Jahren mit Filmen wie beispielsweise „Das Perfekte Geheimnis“ (2019), „Nebenan“ (2021) und „The Whale“ (2022) stark bedient wurde, ist hierfür das Toleranz-Pensum schnell ausgeschöpft.
Nachbearbeitung – Weniger ist Mehr
Viel war hier an Nachbearbeitung wohl nicht nötig. Dementsprechend also eine willkommene Abwechslung zum aktuellen, vor Special-Effects nur so triefenden Hollywood-Kino.
Musik – Gespräche zum Mitschunkeln
Als Seitenhandlungsstrang wird kurz auch auf die langweilige Musiklehrer-Karriere von Thomas eingegangen. Warum der ehemalige Pianist mit Vorliebe für Rachmaninow seine Leidenschaft aber nicht mehr nachgehen möchte, bleibt unbeantwortet. Die unterschiedlichen Lebenseinstellungen der Pärchen werden auch noch einmal veranschaulicht, als sich Salvi und Lisa zeitgleich „House“ wünschen. Wer aber nun erwartet, dass in einem Film, in dem Musik immer wieder thematisiert wird, diese auch zu hören ist, der irrt. Da Schweizerdeutsch aber ohnehin durch seine Nähe zum Französischen einen sehr harmonischen Klang an sich hat, könnte argumentiert werden, dass dies das Fehlen der Musik wieder wett macht.